Die Geschichte

zum Rezept


Shrimp Cocktail

"Put on lettuce in

chilled dessert glasses!"

(Fannie Merritt Farmer)


Die wahre Geschichte des Shrimp Cocktail wird vermutlich für immer im Halbdunkel der Blauen Stunde verborgen bleiben - jener kurzen Zeitspanne zwischen Tag und Abend, in der ein Cocktail-Drink in der Regel nicht ungelegen kommt. Was hat man diesem Klassiker der old fashioned Glamour-Ära nicht alles angedichtet! Ein kalifornischer Bergarbeiter soll den essbaren Cocktail erfunden haben, wahlweise auch ein Gastronom in Las Vegas, andere sind der Auffassung, dieses "Cocktail" genannte Hors d'oeuvre sei in den 1920er Jahren bereits en vogue gewesen, was wiederum andere Stimmen verneinen, die ihrerseits behaupten, er sei erst ab 1959 in Mode gekommen. Die Cocktailsauce wird ihrem Ursprung nach bei der britischen Köchin Fanny Cradock vermutet und dabei genau auf das Jahr 1967 datiert.

 

Ich vermute, dass diese Geschichten - sorry, lieber kalifornischer Bergmann!, eher zu spät als zu früh ansetzen. Ich meine sogar, dass der Shrimp Cocktail wesentlich eleganteren Ursprungs ist und seinen Abstammungsnachweis dort verorten kann, wo viele unsterbliche Gerichte ihren Anfang nahmen: in der klassischen französischen Küche des 19. Jahrhunderts.

In diesem Falle muss dann natürlich auch der Name Escoffier ins Spiel gebracht werden. Und der Name eines Überseedampfers. Und der einer höchst einflussreichen US-amerikanischen Köchin.

Der Überseedampfer hieß MS Touraine. Und die Köchin Fannie Merritt Farmer.


Der Oceanliner

S. S. La Touraine (1890/1900)

Direktorin der Boston Cooking School:

Fannie Merritt Farmer

(1857-1915)


Fannie Merritt Farmer war seit 1890 Direktorin der berühmten Boston Cooking School, von den Bostonians respektvoll Miss Farmer's School of Cookery genannt. Miss Farmer gilt nicht nur als Begründerin der US-amerikanischen Koch-Maßeinheit cup, sondern darf sich das Verdienst zuschreiben, Mädchen und jungen Frauen der Ostküstengesellschaft die Grundlagen modernen Kochens und der Haushaltsführung vermittelt zu haben. Sie legte großen Wert darauf, in aktuell anberaumten Kursen die Damen auch darin zu befähigen, den jeweils neuesten Schrei der kulinarischen Mode mit Bravour auf den Tisch zu zaubern. Zu Fannie Farmers Zeiten kam dieser neueste Schrei fast ausnahmslos aus Frankreich. Fannie Farmer hatte ein Faible für die französische Küche und insbesondere für französische Chefs. Und die prominentesten unter den französischen Chefs pendelten Ende des 19. Jahrhunderts durchaus regelmäßig mit dem Überseedampfer S.S.La Touraine von der Alten in die Neue Welt. Da tauschten sie sich mit ihren Fachkolleginnen und Kollegen über moderne Gastlichkeit, Kochkunst und Hotellerie aus.


August Escoffier, kulinarischer Berater

auch der US-Koch- und Hotelier-Elite


Grundlage des Shrimp Cocktail (er tritt in seinen Anfängen wahlweise auch als Austern-, Seafood-, Scallop- oder Lobster-Cocktail auf) ist immer eine Mayonnaise. Sie ist als kalte Grundsauce aus den von Antoine Careme (1784-1833) und Auguste Escoffier (1846-1935) entwickelten und verfeinerten "weißen Grundsaucen" hervorgegangen, zu denen als warme Grundsauce auch die Sauce Hollandaise zählt. Einer weißen Grundsauce durch die Zugabe von Tomaten den typisch fruchtig-säuerlichen Geschmack und die appetitlich rote Einfärbung zu verleihen, geht ebenfalls auf Escoffier zurück.


In der 10. Ausgabe von Fannie Farmers

Kochbuch ist das Cocktail-Glas fest etabliert


In der Erstausgabe von Fannie Farmers The Boston Cooking School Cook Book von 1896 finden sich bereits diverse Grundrezepte und Varianten der Sauce Hollandaise und der Mayonnaise, unter anderem mit Meerrettich und Cayenne gewürzt (zwei wesentlichen Komponenten des - wenn man so möchte: Ur-Seafood-Cocktails). Es war unter ihrer Ägide bereits üblich, kalte oder warme helle Grundsaucen mit diesen Zutaten aufzupeppen. Auch Tomatenpaste oder Paprika für den appetitlichen Rosé-Ton ist bereits fester Bestandteil einiger ihrer Saucen und Dressing-Rezepte.


Cream Dressings waren als Grundlage

diverser Seafood Cocktails en vogue


Was Auguste Escoffiers Ausflüge in die Neue Welt betrifft, so gilt als gesichert, dass er Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts einige Male in die Vereinigten Staaten reiste. Escoffier war unter anderem Küchenchef im Hotel Ritz, Monte-Carlo, im Londoner Savoy, im Ritz an der Pariser Place Vendome und im Ritz Carlton, London. Er pflegte regen beruflichen Austausch mit Hoteliers, Gastronomen und Kochschulen der Vereinigten Staaten, vornehmlich an der Ostküste. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er und der ein oder andere seiner Schüler Fannie Farmer persönlich kannten, und dass diese die Escoffierschen Kochkünste und Kochtechniken - frankophil wie sie war - als Anregung für ihre Kochkurse und das Repertoire ihrer Rezepte nutzte.


Das "Nest aus Salatblättern" -

bereits bei Miss Farmer ein Muss

"Demonstration Lectures

of new dishes!"


Es ist davon auszugehen, dass Fannie Farmer in ihrer so leidenschaftlichen wie resoluten Begeisterung für die französische Küche ihren Schülerinnen die Zubereitung einer perfekten Mayonnaise und eines Cream Dressings mit Effet beigebracht hat. Rezepte für Mayonnaisen und Dressings, die alle bereits die Grundzüge der klassischen Cocktailsauce in sich tragen, finden sich in ihrem Boston Cooking School Cook Book zuhauf. Was Miss Farmer lehrte und in ihren Büchern festhielt, machte in den USA im wahrsten Sinne des Wortes: Schule. Und so war es bereits kurz vor der Jahrhundertwende, in der Ära des Gilded Age, gang und gäbe, Mayonnaise unter anderem mit Meerrettich, Cayennepfeffer und Senf zu würzen - alles Zutaten, die man bis heute in den klassischen Rezepten für einen Meeresfrüchte- oder Shrimp Cocktail findet.


Happy to serve you!

(Las Vegas, 1950ies)


Dieser Mix aus französischer Mayonnaise plus Meerrettich aus der Würztradition der osteuropäischen US-Einwanderer, plus Senf aus der deutschen und Cayenne aus der südamerikanischen Küche, eingefärbt mit Ketchup (seit den 1870er Jahren von der Firma Heinz massenhaft produziert) brauchte nur noch eine Prise lässiger Unorthodoxie, um endgültig zum Partyknaller aufzusteigen. Für diesen Fun-Faktor war auch zu Fanny Farmers Zeiten bereits die Westküste der USA zuständig. Mit tropischen Früchten, halbierten Avocados als Ersatz für das Servierglas - und im richtigen Moment schnappschussbereiten Las Vegas-Paparazzi, war der Aufstieg des Seafood-Cocktails in die Liga der lässig eleganten Hors d'oeuvres-Klassiker endgültig besiegelt.

Tutti frutti von der Westküste


Was spiellustige Witwen in Las Vegas im Glase schwenkten, kann seine Grande-Cuisine-Herkunft also nicht verhehlen. Escoffier und seine Jünger exportierten das Know-how der klassischen französischen Küche in die Bordküchen der ersten Luxusliner und in die Küchen von Hotellegenden wie dem Waldorf Astoria. Die Damen der Upper Middle und der Lower und Middle Upper Class (von denen der Upper Upper Class aus Middle Fritham ganz zu schweigen!) ließen ihre höheren Töchter in Fannie Farmers Kochschule die Kunst des Cocktailsaucenrührens studieren oder lernten diese spielerisch bei Miss Farmer's Women's Club-Kursen gleich höchstselbst. So avancierte das Hors d'oeuvre, das eigentlich ein kleiner, eleganter Salat ist, serviert in Kristallgläsern, zum flotten Einstieg in eine flamboyante Dinner Sause der legendären "Four Hundred" (zu denen Familien wie die Astors, Waldorfs, Belmonts oder Webbs gehörten). Und wer bei dem Schuss Cognac, der auf dem Kontinent ein Muss zur Verfeinerung der Cocktailsauce ist, jetzt nicht an Frankreichs Kulturerbe denkt, dem sei nun dringend selbst ein Cocktail angeraten - gerne auch ein flüssiger. Cin-Cin!


Pauline Astor (1880-1970),

portrayed by John Singer Sargent

Waldorf Astoria, New York

Palm Garden, 1902

Coming soon ...


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