Der Sänger im Roggen

Portrait of Robert Burns

by Alexander Nasmyth, 1787

(Scottish National Portrait Gallery)

"And we'll take a cup o'

kindness yet,

For auld lang syne."


Am 25. Januar 2023 jährt sich der

Geburtstag des schottischen

Volksdichters Robert Burns

zum 264. Mal.

 

Die Nacht der langen Messer

 

Mit Einbruch der Dunkelheit beginnt am Mittwoch dieser Woche wieder die Nacht der langen Messer. Selbst in eher unschottischen Städten wie Wien oder Mainz, vor allem aber an Orten, an denen sich echte Tartanträger tummeln, stehen Gentlemen im Kilt bereit, ein Fleischmesser in der Hand. Mit festem Griff rammen sie das schneidige Werkzeug in einen prallgefüllten Schafsmagen, so gekonnt, dass dessen kochendheißes Innere wie Lava hervorquillt. Das feierliche Anschneiden der schottischen Eigentümlichkeit Haggis ist der Höhepunkt jener kultischen Veranstaltung namens Burns Night, die anlässlich des Geburtstags von Robert Burns (1759–1796) jedes Jahr weltweit zelebriert wird – insonderheit dort, wo richtige Schotten leben oder wenigstens die Nachfahren von Schotten oder einfach nur glühende Schottlandfans. Es spricht für die Lebensart der Faltenrockträger, dass selbst ihren schlichteren kulturellen Errungenschaften so viel poetisches Potential innewohnt, dass sie feinsinnige Charaktere wie Robert Burns zu Versen inspirierten, die zur Weltliteratur zählen. Eines der berühmtesten Gedichte von Burns heißt Address To A Haggis.



Deftige Verwandtschaft

 

Das Image des Haggis ist eine zwiespältige Angelegenheit. In seiner Heimat steht er im Rang einer nationalen Institution; außerhalb des keltischen Kulturkreises zeigt man sich eher zögerlich, das in einen Schafsmagen gefüllte, mit Hafermehl angedickte Haschee aus Schafslunge und Schafsherz als kulinarisches Must have anzuerkennen. Dabei sollten wir uns nicht so haben! Die Milzschnitte und der Saumagen sind gar nicht mal so entfernte Verwandte des Haggis. Und so, wie die Pfälzer oder Oberpfälzer seit dem 18. Jahrhundert zu Tausenden in die Neue Welt auswanderten, weil sie daheim oft nicht mehr als das Schwarze unter den Nägeln zum Knabbern hatten, mussten auch Burns‘ hungernde Landsleute dankbar sein, ab und zu einmal etwas Tierisches auf den Teller zu bekommen. Burns entstammte einer Familie von Kleinhäuslern; als er geboren wurde, am 25. Januar, rüttelte der Sturm so heftig am Reet des elterlichen Cottages in den Lowlands der Grafschaft Ayrshire, dass man befürchten musste, die Hütte stehe jeden Moment ohne ihr Dach da.

Myles Birket Foster:

Crofter's Cottage, Ardessie, Scotland


Die festliche Stunde

 

Burns wurde 37 Jahre alt; während seines kurzen Lebens gab es in Schottland vier Hungerepidemien. Heute rechnet man den gut fünf Millionen schottischen Einwohnern rund 50 Millionen schottische Schafe zu – eine aufschlussreiche Korrelation, die sich zu Burns‘ Zeiten vergleichsweise ähnlich verhielt. Robert und seine Brüder verdingten sich wie ihr Vater als Kleinpächter. Burns wusste von klein auf, welche Konsequenzen es mit sich brachte, wenn ein Schaf verendete. Man hielt die Tiere nicht wegen ihres Fleisches. Man hielt sie wegen ihrer Wolle und Milch. Wenn ein Lamm starb, zum Beispiel weil der Fuchs es sich holte, war die Existenz der Familie bedroht. Als sein Lieblingsschaf Mailie stirbt, schreibt Burns das Klagelied Poor Mailie’s Elegy – mit „salzigen Tränen im Gesicht“. Aber da half alles nichts: Es musste jetzt aus der Not wenigstens eine Tugend gemacht werden. So wurden aus Klauen Kämme, aus Hammelbeinen der luftgetrocknete mutton ham – und aus den Innereien ein Sattmacher. Der Haggis wurde für die schottischen Auswanderer auf der ganzen Welt zum Symbol: für jene festliche Stunde, in der die ganze Familie endlich einmal etwas Richtiges zu beißen hatte. Auch dazu floss Burns ein Reim aus der Feder. Sein Segensspruch The Selkirk Grace wurde zum geflügelten Wort: „Wir aber essen hier Delikatessen / Vergelt’s Gott, müssen wir sagen.“

James John Hill:

The Crofter's Family


Sinn und Sinnlichkeit

 

Fünf Jahre nach Roberts Tod zelebrierten seine Freunde zum ersten Mal ein Burns Supper. Es fand im Sommer statt, am 21. Juli 1801. Robin, wie sich Burns nannte, galt schon zu seinen Lebzeiten als rechter Vorzeigeschotte. Ein schöner Mann, ausgestattet mit allem, was Sinn und Sinnlichkeit verspricht: volle Lippen, hohe Wangen, den Schalk im Mundwinkel. Dazu Geselligkeit und Verführungskraft, ein Schlag bei den Frauen. Neben den neun Kindern, die ihm seine Ehefrau Jean Armour gebar, sind wenigstens vier uneheliche offiziell bestätigt. Burns war kein Kostverächter. Nicht bei den lassies, den Mägden und Milchmädchen, nicht beim Whisky. Er hatte auf der Schafweide, im Pub und auf dem Viehmarkt Gelegenheit, seinen Landsleuten aufs Maul zu schauen. Er verfasste Trinksprüche, Liebeslieder und Naturgedichte; über 350 schottische Liedtexte sollen auf sein Konto gehen. Bei uns darf er als einer der wohl unbekanntesten bekannten Dichter gelten. Ein Lied ist vielen im Ohr, aber nur wenige wissen, dass es von Burns stammt; Anglophile singen es traditionell zu Silvester: Auld Lang Syne, jenes Lied, das im Film »Ist das Leben nicht schön?« erklingt, als der Engel Clarence seine Flügel bekommt. Überhaupt ist das mit den Burns-Liedern so eine Sache: Es ist nahezu unmöglich, die coole Fassade aufrechtzuerhalten, wenn man sie hört. Im Englischen nennt man so was tearjerker – Tränendrücker.

William McTaggart, Spring (1864)


Haggis, Whisky & Co.

 

So ein volkstümlicher Stoff hat natürlich das Zeug, in andere gemüthafte Dialekte übertragen zu werden; der Österreicher Dieter Berdel tut sich seit einer Weile darin hervor, Burns‘ Werke ins Wienerische zu übersetzen. Wie süffig das klingen kann, zeigt seine Hommage an Burns‘ Heimat: »Haggis, Whisky  & Co.«. In Kooperation mit den Veranstaltern der Wiener Burns Night hat Berdel eine kommentierte Auswahl von Burns‘ Liedern und Gedichten herausgegeben, im schottischen Original und in deutschsprachiger Interpretation; sie dienen den Autoren als Wegmarkierungen für einen kulinarisch-literarischen Streifzug durch die Lowlands und Highlands – jene tweedfarben irrlichternden Landstriche des keltischen Nordens, in denen es, wie man so sagt: regnet, wenn es nicht schneit, und stürmt, wenn es nicht regnet.


Im Dickicht der Ähren

 

Solch widerborstigen Böden etwas Nahrhaftes abzuringen, ist alles andere als romantisch. Weil Burns selbst Bauer war, veranschaulichen seine Naturgedichte die Härte und Entbehrungen, aber auch die Freuden des Farmerlebens in lebensnahen Bildern. Ein wehmütiger, aber stets humorvoller Ton ist da zu hören. Der kraftvolle Sound der Verse strahlt den Willen aus, sich nicht unterkriegen zu lassen. Der Speiseplan von Burns‘ Landsleuten war kärglich. Zwar mangelte es in dem von Fjorden und Buchten durchklüfteten Land nicht an Austern, Wildlachsen und Heringen, aber diese galten als Armeleuteessen und hingen den meisten Schotten zu Burns‘ Zeiten bereits zum Halse heraus. Das muskulöse Fleisch des Aberdeen Angus oder Galloway Rinds war den Fürstentafeln in den Macbeth-Burgen vorbehalten; das Volk nährte sich von Brei. Der Porridge aus Hafermehl ist eine schottische Erfindung. Gersten-, Hafer- und Roggenfelder bilden das Hintergrundrascheln vieler amouröser Burns-Verse; im süffigen Dialekt der Lowlands besingt der Dichter die Vergnügungen, die man als hübscher Bursche im Dickicht der Ähren erwarten durfte. Des Dichters erotische Reime versetzten denn auch manch berühmte Bürgerliche in Schwingung: Die Sopranistin Nellie Melba besang ihre erste Grammophonplatte 1904 mit dem lasziven Burns-Gedicht Comin‘ Thro‘ the Rye, und J. D. Salinger paraphrasierte in seinem Roman »Der Fänger im Roggen« daraus eine Verszeile.

Horatio McCulloch, Loch Lomond, 1861


Die Grundlagen der

schottischen Küche

 

Besser als Getreide gediehen auf den Nebelhöhen Sagen und Märchen. Dreimal zog Burns los, um in den Highlands die Folklore seiner Heimat zu sammeln. Das erste Mal 1787 – auf dem Kontinent unternahmen die Brüder Grimm und Achim von Arnim und Clemens Brentano Ähnliches Jahrzehnte später. So wurde Burns nicht nur zum Chronisten der schottischen Liedtradition. Er darf auch als einer ihrer ersten Nahrungsethnologen gelten. Seine Balladen besingen Moorhuhn und Hirsch, Vogelbeere und Gerstenkorn, Kräuterwiesen und Torf – die Grundlagen der schottischen Küche.

Deer Stag


Unsterblicher Freigeist

 

Der schottische Grimmbruder Burns gab mit seiner selbstbewussten Poesie dem Nationalgefühl seiner Landsleute Nahrung. Nur wenige Jahrzehnte vor Burns‘ Geburt, 1707, war Schottland mit England vereinigt worden. Als Burns seinen ersten Gedichtband veröffentlicht, werfen sich die Freigeister der Edinburgher Freimaurerszene vor ihm fast in den Staub. Burns wird zur Identifikationsfigur; er hatte seinem Band den Titel gegeben: Poems, Chiefly in the Scottish Dialect. Die Bildungselite Schottlands verleiht ihm den Ehrentitel »Caledonia’s Bard«. Und macht den schottischen crofter, den Kleinpächter, damit unsterblich. Heute kann man sich am »Robert Burns Single Malt Whisky« laben und im »Burns Country« Urlaub machen. Nur eines ist anders als 1707: Die vegetarische Version des Haggis gilt manchen heute als ebenbürtig.

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George Morland (1763-1804):

The Public House Door


General Libraries,

The University of Texas, Austin

Dieter Berdel, Simon Drabosenig, Jasmin Haider, Karl Menrad: Haggis, Whisky & Co. Mit Robert Burns durch die schottische Küche. Mandelbaum, Wien. 215 S., 25 €.

Pictures: Public Domains

"Should auld acquaintance

be forgot

and never brought to min'?

Should auld acquaintance

be forgot

And days o' auld lang syne?"


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