Die Geschichte

zum Rezept


"Geruchzucker"

"So wie man bei feinen Backwerken

auf die Idee kam, denselben

durch Bestreuen mit Hagelzucker

ein besseres Aussehen zu geben,

ebenso nahe liegt es,

durch feinen Geruchzucker denselben

einen feinen Geschmack zu geben."

(Johann Rottenhöfer, 1858)


Immer vorrätig solle man ihn haben, den Geruchzucker, empfahl Johann Rottenhöfer, seines Zeichens Haushofmeister und Mundkoch am Hofe der bayerischen Könige Maximilian II. und Ludwig II.

Zuckerspezialitäten für Backwaren und Desserts wurden damals allesamt selbst hergestellt. Von ausgewiesenen Experten, die dieses Handwerk eigens erlernen mussten: den sogenannten Zuckerbäckern.

 

Vier Sorten Zucker unterschied eine Hofhaltung wie die der Wittelsbacher: Hagelzucker, Backzucker, Kristallzucker und Geruchzucker. Dafür musste man eigene Gerätschaften vorhalten. Wie etwa ein Sieb mit vier verschiedenen Einsätzen, mit dessen Hilfe die Größe der Hagelzuckerkörnchen je nach Bedarf festgelegt werden konnte.

 

Dafür wurde Zucker vom Block geschlagen, die so entstandenen Klumpen mehrfach zerstoßen und gesiebt - am Ende hatte man Hagelzuckerkörnchen unterschiedlicher Größe. Mehrfach verweist Rottenhöfer in seinem Kochbuch darauf, wie wichtig es sei, solche Zuckersorten immer vorrätig zu haben. Es war schlicht eine Frage des Zeitaufwands. Stunden dürfte es gedauert haben, um solch einen Vorrat an Puder-, Hagel- und Gewürzzuckern regelmäßig aufzufüllen. Solche vorbereitenden Arbeiten erledigten die Gehilfen der Zuckerbäcker vermutlich in ihren Nachtschichten.

 


It-Piece anno 1900: Die Zuckerdose

 

Zuckerdosen, deren Wohlbeleibtheit sie in den Rang von SUVs der Porzellankultur erhob, lange Nachtschichten für ein bisschen Zuckerdeko auf der Torte, dazu eine eigene Profession für die Zubereitung von Zuckerspezialitäten - wer angesichts dieser Phänomene eins und eins zusammenzählt, ahnt: Zucker hatte vor ein-, zweihundert Jahren mutmaßlich ein anderes Standing als heute.

 

Ein Blick auf die Darstellungen von Influencerinnen früherer Epochen wirft ein Licht darauf, welche Hinguckerqualitäten Zucker besaß - die Dame von Welt zeigte sich ihrem Publikum damals nicht etwa in High Heels oder als Hyaluron-Reservoir, sondern als Teilhaberin der schönen Welt des Dolce Vita - Griff zur Zuckerdose inklusive:


"German Woman taking Coffee", um 1740

Bibliothèque des Arts Décoratifs, Paris


"A Family being served with Tea", um 1745

Yale Center for British Art


Albrecht Adam, um 1825:

"Eine junge Münchner Bürgersfrau

genießt die Freuden des Kaffees"

 

Bis zu den Napoleonischen Kriegen war Zucker ein Luxusgut der Happy Few. Die Sklaven auf den überseeischen Zuckerrohrplantagen zahlten einen hohen Preis dafür. Die europäische Hautevolée (und nicht nur sie) sah damals keine Tagesschau, kannte kein Twitter, keine Express-Nachrichten, Frauen sollten nach männlichem Dafürhalten tunlichst sowieso keine Zeitung lesen, und News gingen noch nicht viral. So blieb die Freude daran, sich Süßes leisten zu können, weitestgehend ungetrübt.


Zuckerrohr. E. Kirchner, um 1850


Allerdings machte Napoleons Kontinentalsperre dem süßen Leben kurzfristig den Garaus. Die Zuckerlieferungen aus den Südstaaten der USA via England waren dadurch unterbunden.

In dieser Situation besann sich Preußenkönig Friedich Wilhelm III. auf die Errungenschaften deutschen Tüftlergeists.

 

1747 hatte der Chemiker Andreas Sigismund Marggraf nachgewiesen, dass die deutsche Runkelrübe ähnliche Süßmacherqualitäten aufwies wie Zuckerrohr. 50 Jahre später, 1796, gelang es dem Chemiker Franz Carl Achard, aus Runkelrüben Zucker zu gewinnen. Jetzt brauchte es nur noch ein wenig Anschubfinanzierung vom Preußenkönig - und schon konnte 1802 der erste industriell erzeugte Zucker aus heimischen Runkelrüben auf den Markt kommen.

 

Zwischen 1836 und 1870 stieg die Zahl der Zuckerrübenfabriken in Deutschland von 54 auf 304. Gut 1.300 Tonnen Zucker stellten die Fabriken im Jahr 1836 her. Im Jahr 1870 waren es schon fast 190.000.

 

Das brachte zweierlei mit sich: Die Hofzuckerbäcker konnten mehr denn je ihre Kunst verfeinern, aus dem Vollen schöpfen und ihr historisch einmaliges Repertoire an süßen Kunstwerken noch weiter auffächern. Noch heute zehren wir von diesem delektablen Fundus an Rezepturen für Torten, Kuchen, Plätzchen, Eiscremes, Desserts, Puddings, Konfekt, Bonbons, Pralinen, Sirups, Limonaden, Likören, Marmeladen, Konfitüren, Dragees, Marzipan, kandierten Früchten ... hab ich noch etwas vergessen?

 

Und: Zucker machte Karriere als - wie Kulturhistoriker sagen: gesunkenes Kulturgut. Zunächst nur bei Hofe en vogue, dann in großbürgerlich-patrizischen, später in bürgerlichen und schließlich auch in den Haushaltungen der einkommensschwacheren Bevölkerung.

 

Das ist auch der Grund, weshalb Zuckerdosen um 1900 so aufgetunt daherkamen. Das gute Porzellan aus der Vitrine signalisierte: Wir haben es zu etwas gebracht. Wir können uns viiiiieeel Zucker leisten!


Blick in eine Zuckerbäckerei, Ende des 18. Jahrhunderts in Nürnberg:

Kupferstich von G. Vogel u. A. Gabler

Nürnberg, 1790


Der Roh-Rohrzucker aus Übersee wurde in deutschen Zuckerraffinieren geläutert und zu Zuckerhüten geformt. Sie waren die übliche Handelsform. Es gab sie in zwei Größen: 12 Kilo oder 18 Kilo.

Um Zuckerstückchen für die Zuckerdose zu gewinnen, musste man vom Zuckerhut erst gröbere Brocken abschlagen und diese dann zu kleineren Klümpchen hacken. Brauchte man Backzucker, kamen die Stücke in den Mörser und wurden per Hand zerrieben.

 

Unten im Bild: Abbildung von Zuckerhüten.

Herrschaftliche Zuckerbäckerei

Nürnberg 1712


 

Die Orangen für den bei Hofe so beliebten Geruchzucker kamen aus königlichen Orangerien.

Blütenzucker und mit Fruchtschalen parfümierte Geruchzucker herstellen zu können, zählte zum Portfolio jedes kunstfertigen Zuckerbäckers.

Wie Hofküchenmeister Johann Rottenhöfer wohl meinen Orangen-Geruchzucker befunden hätte?


"Mache ich Zucker

auf allerhand schöne Manir ..."

(Bewerbungsschreiben einer

Zuckerbäckerin, 18. Jh.)

Resim Ve Heykel Müzesi, Ankara


"Marchande de Plaisir", Paris 1824

Weiterführende Literatur:

Walter Poganietz, Vom Lebzelter zum Chocolatier. Die Handwerksgeschichte der Bayerischen Konditorenfamilie Krönner seit 1759. Murnau, 2018


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