Blumen für die Ewigkeit

Artificial Flowers


Porzellanmanufaktur Meißen, um 1750

(Bayerisches Nationalmuseum, München)


"A Display of Power"

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Letzten Sommer, in Venedig, kam ich auf die Idee, künstliche Blumen einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Ich hatte einige Exemplare in Schaufenstern entdeckt und war begeistert von den filigranen Formen und schillernden Farben der Blumen und Blüten aus Muranoglas. Ein Interviewtermin mit Mimi Todhunter hatte mich in die Stadt an der Lagune geführt - auch in ihrem Zuhause, im Palazzo Duodo am Canal Grande, kamen wir während meines Besuchs auf das Thema zu sprechen. Mimi befand sich mitten in den Vorbereitungen zu einem festlichen Dinner, sie erwartete Gäste für den Abend, ich war neugierig, welche Blumen sie für die Tischdekoration ausgesucht hatte. "Oh, I won't do flowers," erklärte sie zu meinem Erstaunen. "I'm doing fruit. Fresh fruit!". Auf meinen fragenden Blick hin erzählte sie, dass sie am Vortag am Campo Santa Margherita gewesen sei, um Blumen zu kaufen. Aber wegen der Schwüle hätten die Blüten halb welk und nicht mehr präsentabel ausgesehen. Das hatte sie ein bisschen verzweifelt gemacht. Deshalb hätte sie Stephen angerufen. Einen engen, guten Freund. Und Stephen fand, gar keine Blumen seien die noch viel bessere Wahl.


Likörgläser, Platzväschen und

Blütenschalen aus Muranoglas


Stephen Moore ist seit über 20 Jahren das Gesicht der populären BBC Antiques Roadshow, Experte für Antiquitäten, Autor und Kurator. Die Geschichte der Tafelkultur ist sein Metier. Und so kam Mimi, als die Frage "Blumen oder keine Blumen" auf dem Tisch war, auf die Idee, mal eben gleich mit Stephen persönlich darüber zu sprechen. Sie klickte auf ihr Handy, drückte auf laut - und schon hatte ich Stephen an der Strippe.


Tafelaufsatz mit Nelken, Winden, Lilien, Narzissen,

Porzellanmanufaktur Meißen, um 1750

(Bayerisches Nationalmuseum, München)


Bis Ende des 18. Jahrhunderts, erzählte Stephen, seien frische Blumen auf den Tischen und Tafeln nicht üblich gewesen. Erst ab 1800 hätte sich das allmählich geändert: "In the early 19th century you start to see flowers coming in. But not on the table. Flowers decorating the house." Vor dieser Zeit seien künstliche Blumen der dernie cri gewesen: "They preferred artificial flowers. Flowers in paper or wax or porcelain or silk or glass. Artificial flowers were considered a display of power."


Porzellanmanufaktur Meißen, um 1750

(Bayerisches Nationalmuseum, München)


Ganz so streng, wie Stephen es beschreibt, war die Sache aber cum grano salis nicht. Blumen aus freier Natur, vom Veilchen über Lavendel und Gänseblümchen bis hin zur am Wegesrand gepflückten Hundsrose, fanden auch in früheren Jahrhunderten durchaus ihren Weg auf die Tische, locker auf dem Tisch verstreut, zu besonderen Anlässen. Doch geschah dies eher selten. Blumenvasen waren bis Anfang des 19. Jahrhunderts als Haushaltsgegenstand nicht weithin üblich. Wenn wir also von Blumen als Tafelzier früherer Epochen reden, haben wir nicht den Holztisch einer Bauernkate vor Augen, sondern in der Regel die fein gedeckte Tafel eines aristokratischen oder patrizischen, (groß-)bürgerlichen Haushalts. Hier wurden Dekor-Moden kreiert und verfeinert - von hier aus nahmen sie ihren Weg in die Alltagskultur.


Zwei Salzstreuer in Blütenform

(Erbstücke meiner Familie)


Doch auch bei den Von und Zu's nahm die Sache mit der frischen Blumendeko bei Tisch erst einmal gewisse Umwege. Wenn auch in größerem Stil, mit dem sogenannten centerpiece oder surtout, dem kunstvoll prunkvollen Tafelaufsatz in der Mitte, aus kostbarsten Materialien gefertig, Gold, Silber, Edelsteine, Porzellan. Solch ein prachtvoller, alles überragender Tafelaufsatz als Symbol für Glanz und Gloria konnte - musste aber nicht! - auch Blumen zur Schau stellen. Hin und wieder durchaus echte Blumen aus dem eigenen Hofgarten, jedoch keine duftenden. In der Regel aber zumeist höchst kunstvoll nachgeahmte aus Seide, Porzellan, weißglänzendem Zuckerwerk oder bunt bemaltem Marzipan - alles durchweg ebenso kostspielig wie die genannten Edelmaterialien. Was draußen einfach so wild vor sich hinwuchs, konnte in der Vorstellung eines gottgleich erachteten Königtums nicht als ebenbürtig betrachtet werden. Es galt als gewöhnlich und unter der Würde höfischen Glanzes.

"Flowers just taken from the garden

were considered a bit weak."

(Stephen Moore)


Mailänder Tafelaufsatz, vergoldete Bronze, 1838

Silberkammer der Wiener Hofburg


Herrscherhäuser hatten absolute Macht zu demonstrieren - und die erstreckte sich auch auf die Vorstellung, mächtiger als die Natur zu sein - und somit selbst zum Schöpfer zu werden. Man bändigte Hecken, trimmte Bäume, zwang der Natur in Gärten und Parks eigene Formvorstellungen auf - und nahm selbstverständlich für sich in Anspruch, die besten Künstler, Gold- und Silberschmiede und Hofzuckerbäcker der Zeit damit beauftragen zu können, mit den weltweit edelsten Materialien schöpferisch tätig zu werden und Blumen und Blüten für die Ewigkeit zu erschaffen. In dieser Zeit erlebte die Porzellankunst mit der Darstellung ganzer Gartenszenerien und blütenbesetzter Dekorationsobjekte ihre im Wortsinn: höchste Blüte.


Porzellanmanufaktur Meißen, 1748

Modelle von Johann Joachim Kaendler

(Bayerisches Nationalmuseum, München)


Porzellanmanufaktur Meißen, um 1740/50

(Bayerisches Nationalmuseum, München)


Einzige Ausnahme: Früchte. Exotische Früchte. Was von weit her kam, aus dem Orient oder den Kolonien, galt als Sensation. Brachte ein Konquistador, ein Seehandelskaufmann von weit her die ersten Orangensetzlinge, Zitrusbäumchen oder gar eine Ananas, ließen die HerrenDamen Aristokraten dafür zunächst eigene Gewächshäuser errichten, die sogenannten Orangerien. Schlugen die Setzlinge dann Wurzeln und trugen im europäischen Klima Früchte, wurden diese wie das siebte Weltwunder bestaunt. Derartige Kostbarkeiten waren der ganze Stolz eines Fürsten und wurden selbstverständlich wie Trophäen zur Schau gestellt: als Mittelpunkt der Tafel bei Galadiners und festlichen Empfängen.


Museo Correr, Venedig

Imperial Rooms


Orangerie des Fürsten Pückler

Schloss Branitz & Branitzer Park


Vergoldete Ananas auf dem Dach der

Fürst Pückler'schen Orangerie


Mimi Todhunter setting the table in the

gallery of Palazzo Duodo, Venice


Nach 1800 änderte sich der Blick auf die Welt. Aufklärung und Französische Revolution ließen auch der Natur freieren Raum. Der Englische Landschaftspark nahm sich das Natürliche zum Vorbild, das Biedermeier wandte den Blick aufs Häusliche, Behagliche, natürlich Schöne, und Romantik, Freundschaftskult und neue Innerlichkeit machten Immergrün, Vergissmeinnicht und Rose zu ihren symbolischen Verbündeten. Das Image der Blumen drehte sich um 180 Grad! Auch in der Esskultur gab es radikale Wendungen. Nicht mehr riesige Platten und Schüsseln wurden auf einmal aufgetragen, sondern die Menüfolgen einzeln auf Tellern im Service à la russe. In der Mitte des Tisches war nun viel mehr Platz. Und zwar für Vasen in allen Formen und Größen. Platzväschen für einzelne Blüten. Größere für flamboyante Bouquets. Für das Haus Habsburg beispielsweise wurden die Blumen mit dem Zug aus Triest oder durch den 1882 eröffneten Gotthardt-Tunnel aus San Remo importiert. In bürgerlichen Haushalten durften die Tischblumen auch selbstgepflückt sein. Und wie bei so vielen Neuerungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts trugen die Weltausstellung von 1851 und die Chelsea Flower Show 1861 dazu bei, die Mode der Tischvase zu verbreiten. Wie die Schnittblumen darin zu arrangieren und welche Blüten zu welchem Anlass die passenden seien - das wurde nun auch Thema in den Kochbüchern der Epoche.


Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch, 1891


"Lightness and elegance

should be the motto of

every dinner-table decorator."

(John Perkins, Floral Designs for the Table, 1877)


"I'm doing fruit. Fresh fruit!"

(Mimi Todhunter)


Anregungen zu diesem Artikel erhielt ich durch die Lektüre von: Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.), Wege in den Garten. Festschrift für Michael Seiler, Berlin 2004, S. 244-251 (Marcus Köhler).



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